“Der Hauptfeind steht im eigenen Land”
3. März 2022
Von Tom Seeauge
„Der sogenannte >Burgfrieden< ist eine Falle, die dem Proletariat von den herrschenden Klassen gestellt wird, um es zum aktiven Werkzeug ihrer Politik zu machen.“ (Karl Liebknecht, aus „Zur Begründung eines Minderheitenvotums gegen die Kriegskredite“, 1914)
Karl Liebknecht lesen, lohnt sich immer, in diesen Tagen besonders.
Seit der militärischen Intervention Russlands in der Ukraine ist die BRD ein Meer von Friedensfreunden in blau-gelb. Endlich hat der Diktator das gemacht, was von ihm seit Wochen erwartet wurde. Endlich kann man all das verwirklichen, was man an Drohkulisse entworfen hat, von Aufrüstung und Sanktionen bis hin zu Putin/Russland-Bashing. Und fast alle machen mit. Bis auf wenige Stimmen in Politik und Medien besteht nahezu Einmütigkeit darüber, dass Putin diesen Krieg am 24. Februar 2022 begonnen hat, um seinem Imperium ein weiteres Stück hinzuzufügen und unsere Werte damit mit Füssen zu treten.
Dabei wird natürlich ignoriert, dass die Ursachen tiefer liegen und der Anlass ein anderer ist.
Die Situation in der Ukraine ist das Ergebnis eines Prozesses, der nach der globalen Neuordnung der Welt Anfang der 1990er begann.
Seitdem beanspruchen die USA für sich die alleinige Führungsrolle. Zuwiderhandlungen wurden seither unter Umgehung des Völkerrechts bestraft, siehe Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien (die Liste ist unvollständig). Die NATO ist zur Durchsetzung dieses Führungsanspruches die wichtigste militärische Komponente. Die Osterweiterung der NATO ist dabei ausdrücklich ein Mittel in diesem Konzept und eindeutig gegen Russland, als einem möglichen, wieder erstarkenden, Rivalen gerichtet. Das gleiche gilt für China in Ostasien.
Neben militärischer Gewalt zur Durchsetzung des Führungsanspruches kommen wirtschaftliche Sanktionen gegen und die politische Einmischung (sog. Farbenrevolutionen) in Staaten hinzu, die den Führungsanspruch der USA nicht akzeptieren.
Russlands Intervention muss man auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass dieses Land im vergangenen Jahrhundert drei Mal um seine Existenz kämpfen musste. Es musste die ausländische Invasion nach der Oktoberrevolution abwehren, den Großen Vaterländischen Krieg führen und den größten Teil Europas vom Faschismus befreien, und sich nach 1991 während der Jelzin-Periode vor dem staatlichen Verfall schützen. Diese innen- und außenpolitische Stabilisierung gelang unter der ersten Putin-Präsidentschaft ab 2000.
Während dieser gesamten Zeit wurden, und bis auf den heutigen Tag werden, die Sicherheitsinteressen Russlands dabei vom Westen ignoriert. Auf die jüngsten russischen Vorschläge zu Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Ende 2021 wurde durch die NATO/USA/Deutschland nicht reagiert.
Das ist der globale, historische Kontext, der bei Beurteilung des russischen Vorgehens beachtet werden muss.
Der unmittelbare Anlass für die Intervention Russlands in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 ergibt sich aus der völkerrechtlichen Anerkennung der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch die Russische Föderation und den bestehenden Freundschaftsverträgen mit beiden Republiken. Die Terrorangriffe der Ukraine auf die beiden Republiken, vor allem durch die nationalistisch-faschistischen Kräfte, sollen beendet werden.
Auch das ist eine Entwicklung, die bereits vor über acht Jahren begann.
2014 gab es einen Putsch in der Ukraine. Maßgeblichen Anteil am Putsch gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten hatten Neo-Faschisten (Rechter Sektor), die in der Tradition des Nazi-Kollaborateurs Bandera stehen.
Zu den Geburtswehen des neuen Regimes in Kiew gehörten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Man erinnere sich an den 2. Mai 2014 als im Gewerkschaftshaus von Odessa weit über 40 Gegner des neuen Regimes ums Leben kamen, als Faschisten das Gebäude in Brand setzten und die Opfer daran hinderten, es zu verlassen.
Die beiden abgespalteten Volksrepubliken Donezk und Lugansk, mit überwiegend russischer Bevölkerung, entzogen sich dem Einfluss des antirussischen Regimes in Kiew. Die Krim-Bevölkerung wählte den Weg zurück in die Russische Förderation. Seit dieser Zeit sind die beiden Donbass-Republiken Angriffen, vor allem der faschistisch-nationalistischen Kräfte ausgesetzt. Ungefähr 14.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, starben.
Von den Regierungen der BRD und der anderen NATO-Staaten werden seit 2014 das ukrainische Regime und deren faschistische Bataillone (z.B. Asow) aufgerüstet, seit 27. Februar 2022 auch offiziell mit deutschen Waffen.
An der Umsetzung der Minsker Abkommen von 2014 und 2015 zeigte die ukrainische Regierung mit Duldung der NATO/EU-Staaten nicht annähernd Interesse.
Die Fakten widersprechen der herrschenden Meinung hierzulande: Es herrscht seit 8 Jahren Krieg in der Ukraine, nicht erst seit dem 24.02.22! Dafür ist die Bundesregierung im Einklang mit den anderen NATO- und EU-Staaten maßgeblich mit verantwortlich. Alle Vorschläge Russlands zur Umsetzung von Minsk-II wurden ignoriert.
Die Ukraine ist seit 2014 zum Vorposten der NATO gegen Russland mutiert und das Kiewer Regime spielt diese Rolle mit voller militärischer, politischer und wirtschaftlicher Deckung durch die NATO- und EU-Staaten. Zudem spricht das ukrainische Regime offen über atomare Bewaffnung.
Das war die Situation unmittelbar vor Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine.
Krieg ist nie gut. Deshalb sollte er so schnell wie möglich beendet werden.
Die NATO-EU-Staaten und die Bundesregierung setzen aber alles daran, dass das nicht passiert.
Es ist bezeichnend, dass genau am Jahrestag des Reichstagsbrandes am 27. Februar 2022 Kanzler Scholz im Reichstag das größte Aufrüstungsprogramm der BRD verkündete. 100 Milliarden Euro für einen steuerfinanzierten Sonderfond zur Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr. Dazu die Ankündigung, das jährliche „2-Prozent-Ziel“ der NATO für Rüstungsausgaben zu übertreffen.
Als unmittelbare „friedenserhaltende Maßnahme“ hat die Bundesregierung beschlossen der Ukraine deutsche Kriegswaffen zu liefern. Aus den Beständen der Bundeswehr machen sich 1.000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen des Typs Stinger auf den Weg ins Kriegsgebiet. Dies seien Defensivwaffen, sagt die Ampelkoalition. Was sonst.
Die Aktie von Krauss-Maffei Wegmann stieg innerhalb eines einzigen Tages um 3,6 Prozent, die von Hensoldt um 5,1 Prozent, Airbus um 6,5 Prozent und Rheinmetall um sieben Prozent. Bei der deutschen Rüstungsindustrie wird man immer noch feiern.
Bei so viel neuen Waffen scheint es aber schon ein absehbares Problem mit dem Personal zu geben. Es stehen nicht mehr genügend Soldaten zur Verfügung, die all das neue Kriegsmaterial bedienen können. Deshalb hat auch schon ein Linker Ministerpräsident über die Wiedereinführung der Wehrpflicht nachgedacht. Eigentlich keine Überraschung mehr.
Dazu ein beispielloser Wirtschaftskrieg gegen Russland, dessen Folgen auf die, ohnehin schon unter hohen Preisen leidende, werktätige Bevölkerung unseres Landes abgewälzt werden.
Die Sanktionen gehen dabei ins Absurde: Sogar russische Katzen sind neuerdings betroffen. Sie dürfen nicht mehr an internationalen Zuchtschauen teilnehmen. Die deutsche Hauskatze wird es freuen.
Die andere Seite der momentanen Hysterie gegen Russland sind zunehmender Hass gegen russische Mitbürger. Laut PNN vom 1. März 2022 erhielt die russisch-orthodoxe Gemeinde in Potsdam ein Drohschreiben, in dem die Frage gestellt wurde: „Was habe so eine russische Gemeinde überhaupt noch in Deutschland verloren?“ Diesen Auswüchsen von Russophobie muss entschieden widersprochen werden.
Um auf das eingangs erwähnte Zitat von Karl Liebknecht zurückzukommen: Lassen wir uns nicht zum Werkzeug der Herrschenden machen. Das bedeutet:
Die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands (zunächst: Stopp der NATO-Osterweiterung, Neutralität der Ukraine) müssen anerkannt werden, denn ohne Frieden mit Russland kein friedliches Zusammenleben in Europa. Dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen.
Die Herrschenden in der BRD dürfen den Konflikt in der Ukraine nicht weiter anheizen und unter diesem Vorwand die weitere Militarisierung vorantreiben. Deshalb dürfen keine weiteren Waffen in die Ukraine geliefert werden. Zudem muss das horrende Aufrüstungsprogramm zurückgenommen werden.
Die Wehrpflicht darf nicht wieder eingeführt werden.
Die umfassenden Sanktionen auf allen Gebieten (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur) gegen Russland müssen im Interesse der Werktätigen hierzulande und der Völkerverständigung zurückgenommen werden. Nord Stream II muss in Betrieb gehen.
Keine Toleranz gegen jegliches Aufkommen von Russophobie in der Gesellschaft.
Um mit einem weiteren Zitat von Karl Liebknecht zu enden: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!